What a life!

Innovativ ist das nicht. Und sicher auch nicht anspruchsvoll. Aber beide Einwände sind vergessen, sobald der erste Takt gespielt ist. Denn was dieser nun auch nicht mehr ganz so junge Herr da macht, ist Zauberei mit Melodien.

An Noel Gallagher scheiden sich die Geister. Für die einen ist er einfach nur ein großkotziger Working-Class-Engländer, der sich die Ideen für seine Songs von den Genies der 60er klaut. Für die anderen ist er schlicht einer der größten Songwriter der letzten zwei Jahrzehnte. Ich zähle mich zur zweiten Gruppe.

Denn dieser unscheinbare Mann mit der Gitarre um den Hals hat den tödlichen Drang zum umwerfenden Songwriting. Scheinbar mühelos schüttelt er Melodien, Arrangements, Textzeilen aus dem Ärmel, die für die Ewigkeit gemacht sind. Sie packen Dich ganz tief drin, umschlingen Dich mit ihrer wohligen Perfektion und schalten den Denkapparat im Handumdrehen aus. Was dann kommt, ist pure Emotion! Und Spaß! Und Sucht ;-)!


Nun steht er also in Berlin in der recht sportarenenhaften Max-Schmeling-Halle. Rockkonzert-Locations sahen auch mal authentischer aus ... Als erstes "(It's Good) To Be Free", altes Oasis-Repertoire und eigentlich nur eine B-Seite - für mich allerdings einer der besten Songs der Gallaghers überhaupt! Im Original eine schwerfällig verschrammelte, fast trotzig klingende Ode an die Freiheit, klingt sie in der neuen Live-Version richtig beschwingt. Hier ist jemandem anzumerken, wie er die neuen Zeiten genießt!

Nach "Mucky Fingers", immer noch Oasis, dann das erste neue Material. Angemessen opulentes Intro, spannungsvolle Stille - "You can't fight the feeling ..." - vier Sätze, rausgehauen in die musikalische Leere, verlassen, anklagend und doch irgendwie mit optimistischem Unterton. Es ist ein Moment zum Niederknien! Jedes einzelne Mal, wenn Noels neue CD mit genau diesem Lied startet. Und auch hier, in Berlin, Max-Schmeling-Halle. Es sind diese Emotionen, die Noel Gallagher mit beängstigender Präzision hervorzaubert und die ihn in meinen Augen so groß machen.


Weiter geht's, und zwar ziemlich genau in der Reihenfolge der CD. Dass Liam immer die bessere Rampensau war, haben ja alle Kommentatoren schon ausreichend betont. Es ist wirklich so! Noel steht da wie ein Straßenmusikant, der nicht genau weiß, ob er überhaupt ein Publikum hat, mit dem er interagieren muss. Irgendwann sagt er dann auch mal was - egal, diesen vernuschelten Manchester-Slang versteht eh kaum einer. Außer die obligatorisch eingefückten f***-Varianten ;-).

Dann so ein Song, dem weithin Wonderwall-Qualitäten nachgesagt werden (wobei ich mir nicht sicher bin, ob das gut oder schlecht ist). "If I had a gun", eine astreine Ballade, man will ihr eigentlich nicht verfallen, aber man kann sich nicht wehren. Klasse gemacht: bevor das Stück zu sehr verschnulzt, schaltet sich eine druckvoll-unterdrückte E-Gitarre ein, die unaufhaltsam nur diesen einen Ton spielt und damit das sehr balladen-weiche Grundgerüst des Songs kraftvoll trägt. "My eyes have always followed you around the room" - schön!


Das Publikum genießt und schweigt - so richtig Stimmung will nicht aufkommen, vielleicht erwartet man da auch zu viel, schließlich wird auch bei anderen Bands das Material der neuen Alben meist eher unterkühlt genossen. Also ein paar alte Oasis-Legenden eingestreut: "Supersonic" im leichten Gewand, "Whatever" - dass man den noch mal genießen darf. Und ungewöhnlich viele B-Seiten. Erstaunlich, dass auch die mit Jubelschreien vom Publikum aufgesaugt werden. Hier wird einem Denkmal gehuldigt!

Aber Noel Gallagher will natürlich kein Denkmal sein und schnappt sich eigenhändig den Vorschlaghammer. "AKA ... What a life", das ist für mich der Überraschungsknaller auf seinem Debüt-Soloalbum. Mal eben lässig feinste britische Songwriterkunst durch die Vordertür in den Club getragen und dann schön abgefeiert. Jetzt kommt im Publikum sowas wie Bewegung auf. Nicht allerdings auf der Bühne. Das was dort am meisten Unruhe reinbringt, sind die in Songabständen gewechselten Gitarren. "Free to be whatever I ..."


Dann neues Material. Es wird berichtet, dass Noel schon in diesem Jahr eine neue CD herausbringen will, diesmal eine Kollaboration mit einem recht avantgardistischen Projekt, dessen Name mir gerade nicht einfällt. Egal, "Freaky Teeth" rockt!!! Ich bin mir schon jetzt sicher, dass die Richtung perfekt ist und der Split von Oasis vielleicht doch zu etwas gut war ...

Was soll ich sagen, es gibt auf dem High Flying Birds-Album keinen Ausfall, also gibt es auch auf diesem Konzert keinen. Naja, außer "Rain" vielleicht. Vorm Zugabenteil kommt - chronologisch völlig logisch - "Stranded on the wrong beach", für mich in den Top-3 des Albums. Schön vorwärts, mit lässiger Attitüde und 100 Prozent autoradiokompatibel. Laut mitsingen! "Pour me one for the road!"


Die Zugaben bestehen aus vier Oasis-Knallern und da wird deutlich, was das Publikum drauf hat. Wäre es eine Stunde vorher aufgewacht, das Konzert wäre legendär geworden! Nun können alle jede Liedzeile und wollen es lautstark beweisen. Und schließlich, als folgerichtiger Kulminationspunkt - "Don't look back in anger". Noel kann das Singen getrost einstellen und jetzt steht die ganze Halle, Arme selig taumelnd in die Höhe gereckt, die Kehlen rau gebrüllt, trotz des konstanten Biernachschubs. Engländer liegen sich mit Einheimischen in den Armen und es herrscht - zugegeben - eine Art Bierzeltatmosphäre. Aber ist das nicht eine der innigsten Aufgaben von Musik, Menschen in Gemeinschaft zu erfreuen? Also kein übertriebener Dünkel, kein Verweis auf Charttauglichkeit, kein Verdacht auf Nostalgie, bitte diese Stimmung nicht zerstören - "at least not today"!

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